Dieses Jahr feiert die Deutsch-Französische Vereinigung ihr 70-jähriges Bestehen. Bei der Ausstellungseröffnung im September durfte ich zum Jubiläum ein Grußwort halten, welches im Folgenden nachgelesen werden kann:
Lieber Vorstand, lieber Claus-Dieter,
liebe ausstellende Künstlerinnen und Künstler,
liebe Mitglieder der Deutsch-Französischen
Vereinigung Konstanz,
sehr geehrte Damen und Herren,
Bonsoir mesdames et messieurs!
Meine Damen und Herren, Sie wissen, solche Vorträge, die sich mit deutsch-französischen Angelegenheiten, Freiheit und Demokratie beschäftigen, kommen notorischer Weise nicht ohne die Anrufung von
- Liberté
- Égalité und
- Fraternité
aus!
Als ob damit schon jedes Geheimnis über Frankreich, Deutschland und Europa gelöst wäre!
Allerdings wissen wir natürlich, dass dem nicht so ist. Denn natürlich gehört der gute Wein, der Käse und der savoir-vivre auch noch dazu. Wenn ich jetzt noch liberté toujours, einen alten Werbeslogan der Zigarettenmarke Gauloises anbringe, habe ich im Grunde alles an Klischeeschlagwörtern genannt, die in diesem Zusammenhang heute Abend genannt werden müssen.
1950, vor genau 70 Jahren, ist die Deutsch-Französische Vereinigung in Konstanz gegründet worden.
Die Aussöhnung zweier verfeindeter Völker: Das war nach dem Zweiten Weltkrieg der Impuls, den Oberbürgermeister Franz Knapp und Gouverneur Andre Nöel zur Gründung der Vereinigung veranlasst hat. Heute haben Sie etwa 300 Mitglieder, die sich diesem Erbe verpflichtet fühlen.
Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu diesem Geburtstag!
Vor allem ziehe ich meinen Hut vor Ihnen, weil Sie bereit sind, über den Tellerrand des Alltags und unserer Region hinauszublicken. Mehr noch: Es ist Ihnen ganz offensichtlich eine Freude und ein Herzensanliegen, die Kultur und die Lebensart der Menschen in anderen Ländern Europas zu erkunden…
- sich auszutauschen,
- Sprachen zu erlernen und
- Freundschaften zu pflegen über Grenzen hinweg.
Dazu gehören Mut, Neugier und eine Aufgeschlossenheit, die ich deswegen besonders toll finde, weil wir uns heute so massiv mit dem genauen Gegenteil konfrontiert sehen:
- mit Ausgrenzung und Abschottung,
- Kleinmut und Verzagtheit,
- leider allzu oft auch mit offenem Fremdenhass.
Rechtspopulisten sitzen in vielen Parlamenten und Regierungen. Was populistische Staatsmänner Schauderhaftes von sich geben, will ich gar nicht wiederholen. Sie können das alles in den Medien selbst verfolgen und wissen, wovon ich rede. Nun können wir leider nicht die ganze Welt retten.
Aber: Wir können unsere Welt im Kleinen, unsere Alltagswelt, verbessern und bereichern.
Genau das tun Sie! Und in dieser Hinsicht ist die Arbeit der Deutsch-Französischen Vereinigung, ist Ihre Arbeit, ein Segen!
Ich habe lange überlegt, worüber ich sprechen könnte in diesem Grußwort. Dann habe ich natürlich an Adenauer und De Gaulle, Schmidt und Giscard D’Estaing oder Kohl und Mitterrand gedacht. Und weil auch die politischen und gesellschaftlichen Begebenheiten abgebildet werden müssen, sollte nicht verschwiegen werden, dass natürlich auch Frau Merkel und ihre drei Partner im Amt des französischen Staatspräsidenten: Sarkozy, Hollande und Macron erwähnt werden. Und ich möchte es nicht so verstanden wissen, als ob es drei Männer braucht, um die Arbeit einer Frau zu schaffen…
Aber ich habe mich entschieden, etwas aus meinen persönlichen Erlebnissen und Begegnungen mit Frankreich und den Franzosen zu berichten.
Ich ging damals in die 6. Klasse. Ich war Realschülerin in Heilbronn und bin zum Schüleraustausch in Frankreich in einer kleinen Stadt in Elsass gewesen. Obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, hatte ich damals nur die türkische Staatsbürgerschaft und leider noch nicht die deutsche. Ich brauchte deshalb ein Visum, ohne das ich nicht nach Frankreich hätte mitfahren dürfen. Ausgerechnet mir wurde dann bei einem schönen Ausflug der Rucksack geklaut!! Mit meinem Pass und dem Visum darin. Alles war weg und ich mit meinen 12 Jahren total verzweifelt.
Es gab große Schwierigkeiten für mich, wieder nach Deutschland einzureisen. Der Pass tauchte auch später nicht mehr auf. Ich musste in Deutschland auf das türkische Konsulat, einen neuen Pass beantragen. Das war damals alles ziemlich kompliziert. Und für die 12-jährige Nese war das eine bittere Erfahrung. Als einzige Schülerin aus meiner Klasse hatte ich diesen Ärger.
Vergleichen wir diese Zeit Ende der 80er/Anfang der 90er-Jahre mit heute – und überhaupt mit dem europäischen Einigungsprozess: Wie selbstverständlich reisen wir heute in unsere Nachbarländer! Welch großes Glück ist diese politisch errungene Reisefreiheit und auch Währungsgemeinschaft für unser Leben heute!
Viele von Ihnen kennen sicher ähnliche Geschichten aus den Erzählungen ihrer Eltern oder von Verwandten. Oder sie erinnern sich an eine Fahrt in die DDR in den 80er-Jahren. Ostdeutsche hatten diese Reisefreiheit in der DDR nicht, für sie war das brutaler Alltag.
Vielen von uns, vor allem den Jüngeren, hat aber auch erst die Corona-Krise klargemacht, was es bedeutet, wenn Grenzen mal geschlossen sind. Wenn Paare, Familien und Freunde getrennt werden.
Wir hätten wahrscheinlich alle nicht gedacht, dass wir so etwas wie einen Grenzzaun in Klein-Venedig einmal erleben würden. Nun wurde dieser Grenzzaun ja wieder abmontiert – zum Glück!!
Aber ich erinnere mich, wie dort an einem Sonntag eine Geburtstagsfeier ablief. Freunde prosteten sich durch den Zaun hindurch zu und gratulierten so dem Geburtstagskind. Abstand, keine Umarmungen, keine Shakehands! Es war bizarr und kurios. Im ersten Moment schmunzelt man noch. Aber dann spürt man das Unbehagen, den Schmerz.
Es ist so selbstverständlich für uns, dass wir in Freiheit leben. Und wir sehen den Wert der Freiheit oft erst dann, wenn sie uns abhandenkommt oder wenn sie uns genommen wird.
Ehrlich gesagt, glaube ich manchmal, dass nicht alle, aber viele, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren und demonstriert haben, gar nicht wissen, was Unfreiheit und Unterdrückung wirklich bedeuten.
Ja, es ist natürlich eine existenzielle Belastung und es schränkt die Betroffenen erheblich ein,
- wegen Corona mit Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder Insolvenz fertig werden zu müssen
- und mit seelischer Not, Ungewissheit oder häuslichem Druck umzugehen.
Vor allem zu Beginn der Krise, im Lockdown haben wir Menschenansammlungen als großes Infektionsrisiko angesehen. Aber deswegen allen Ernstes so zu tun, als hätten wir keine Meinungs- und Demonstrationsfreiheit mehr, auch jetzt nach den Lockerungen – das ist doch abwegig!
Die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger agiert zum Glück verantwortungsbewusst und weiß den Wert von Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit bei uns zu schätzen.
Aber ich füge hinzu: Sie spüren diesen Wert und die Bedeutung der Freiheit auch deswegen,
- weil sie sich für das Leben der anderen überhaupt interessieren, für die Sprache, Kultur und Identität anderer Menschen in anderen Ländern,
- weil sie nicht nur auf sich und ihresgleichen gucken,
- weil es familiäre, freundschaftliche, auch politische und wirtschaftliche Verknüpfungen über Grenzen hinweg gibt, die diesen Wunsch nach Austausch und Teilhabe immer wieder neu hervorbringen.
Wer dieses beschriebene Interesse nicht in sich spürt, betreibt Nabelschau, etwas zugespitzt formuliert. Der nimmt Freiheit vielleicht gar nicht als etwas so Kostbares wahr. Für den sind Solidarität und Hilfsbereitschaft möglicherweise egal.
Darauf möchte ich hinaus: Wenn wir die Neugier verlieren, die Offenheit und die Fähigkeit verlernen, anderen zuzuhören, ihre Ansichten und Standpunkte zu verstehen, die Fähigkeit, im Parlament und auch auf der Straße zivilisiert zu diskutieren und zu streiten – dann wird es schwierig. Dann kommen Freiheitsrechte unter Druck.
Und wenn wir auf die Geschichte Frankreichs blicken dann sehen wir, dass die großen Errungenschaften der Französischen Revolution, vor allem die Demokratie und die Grundrechte, uns auch für unser heutiges Leben Richtschnur und Maßstäbe an die Hand geben.
Genau deswegen, meine Damen und Herren, ist die Arbeit der Deutsch-Französischen Vereinigung so wertvoll. Genau deswegen bin ich froh, dass wir Sie haben, hier am Bodensee, in einer Region – die schon allein wegen ihrer geografischen Lage für Völkerverständigung und grenzüberschreitenden Austausch steht. Aber man muss diese guten Voraussetzungen auch immer wieder nutzen und etwas daraus machen. Und das tun Sie!
Und deswegen wünsche ich Ihnen mindestens 70 weitere erfolgreiche Jahre. Ich wünsche Ihnen, dass sie immer wieder aktiven Nachwuchs finden, immer wieder die Neugier und Leidenschaft wecken an dem, was in unserer Nachbarschaft passiert. Denn was wäre die deutsch-französische Partnerschaft ohne Leidenschaft.
Deshalb: Bleiben Sie aktiv und neugierig, bleiben wir alle neugierig. Ich wünsche uns allen noch eine schöne Geburtstagsfeier.
Joyeux anniversaire und vielen Dank!